geschichte
- Der Bürgerverein in Eversten -

"Ehrenamt in der modernen Bürgergesellschaft" - Gedanken zur Bedeutung freiwilliger Arbeit vor dem Hintergrund europäischer Einigungsbestrebungen -


Ursula Maria Schute (1999)

"Ehrenamt in der modernen Bürgergesellschaft" - Gedanken zur Bedeutung freiwilliger Arbeit vor dem Hintergrund europäischer Einigungsbestrebungen -
Meine sehr verehrten Damen und Herren, was feiern wir heute eigentlich, wenn es heißt: Eversten - 75 Jahre Oldenburger Stadtteil?

Feiern wir das Aufgehen der ehemaligen Landgemeinde in die ehemalige Landeshauptstadt? - Oder bekräftigen wir mit diesem Jubiläum, daß Eversten ein ganz besonderer Stadtteil von Oldenburg geworden ist, der eine ganz besondere und besonders positive Entwicklung genommen hat und Wert darauf legt, eben Eversten zu sein?

Wir wären hier heute wohl kaum versammelt, wenn Eversten im Bewußtsein der Oldenburger Bevölkerung nicht als ein besonderer Stadtteil lebendig wäre.

Doch wem oder welchen Umständen ist es zu danken, daß Eversten als Teil der Stadt Oldenburg eine solche Karriere gemacht hat?

Der Brunnen auf dem Everster Marktplatz hält die historischen Eckdaten der alten Landgemeinde bis heute fest. Die Inschriften besagen: „Eversten - Sitz der Ritter v. Everse 1250 - Seit etwa 1500 Landesherrl. Dorf -Eingemeindet in Oldenburg 1. Aug. 1924" und nennen den Verschönerungsverein als Stifter des Brunnens. Es war also ein bürgerlicher Verein, der die alte Geschichte des neuen Stadtteils in Erinnerung halten und damit für die Zukunft ein Stück Identität sichern wollte. Und wie wir heute mit Freude feststellen können, ist dies gelungen. Zu danken ist das ganz wesentlich den Bürgerinnen und Bürgern mit ihren Vereinen und Gruppen, die sich seit 75 Jahren ehrenamtlich für ihren Stadtteil Eversten einsetzen.

Daß die Identifikation der Bevölkerung mit ihrem Wohnumfeld, mit ihrem Viertel, ihrem Städtteil und ihrer Stadt eine der entscheidendsten Voraussetzung für die gedeihliche Entwicklung unserer Städte und Ortschaften überhaupt ist, gehört an sich zu den Binsenwahrheiten der Psychologie und der Sozialwissenschaften.

Deshalb müßten Staat und Gesellschaft eigentlich darauf hinwirken, die gefühlsmäßige Bindung der Bevölkerung an den Nahbereich ihres Lebens zu fördern, damit sich möglichst viele verantwortlich fühlen und sich für die Gemeinschaft einsetzen. Trotzdem gibt es aber seit Jahren einen, wie ich meine, problematischen Argumentationsstrang im europapolitischen Diskurs, der diesen Zusammenhang vehement leugnet.

Die Argumentation, an die ich denke, verläuft immer in folgener Art: Was Ihr hier macht, ist ja ganz schön, aber demnächst kommt Europa, und da könnt Ihr mit Euren örtlichen Angelegenheiten, Themen und Organisationsformen sowieso nichts mehr werden. Wir sagen Euch jetzt mal eben, in welchen Zusammenhängen Ihr demnächst denken und handeln müßt. - Die Vorschläge, welche geograpischen Räume dafür zugrunde gelegt werden sollen, sind Legion. Sie reichen von der Achse Frankreich-Skandinavien bis zur Kombination von Gemeinden verschiedener Landkreise. Gemeinsam ist den meisten dieser Planvorstellungen aber, daß sie historische Identität und kulturelle Traditionen entweder als etwas behandeln, das es eigentlich gar nicht gibt, oder als eine Quantite negligeable vom Tisch wischen. In der Sprache politischer Sonntagsreden hört sich das dann so an: Leider erfordern Wirtschaft und Verwaltung in einem sich einenden Europa, daß wir unsere gewachsenen Identitäts- und Handlungszusammenhänge aufgeben müssen. Aber wir können uns unsere Heimatliebe ja ruhig erhalten.

Hier ist nicht der Ort, um über die komplexe Problematik des Zuschnitts von Planungsräumen zu diskutieren. Worauf es mir vielmehr ankommt, ist folgendes aufzuzeigen:

  1. Die Identifikation mit dem Nahraum, wesentlich vermittelt durch Kultur und Geschichte, läßt sich nicht schadlos von Wirtschaft, Verwaltung und Politik entkoppeln. Eine Bevölkerung, die ihre Identität verliert, verliert auch ihre Fähigkeit zu wirtschaftlicher und politischer Selbstorganisation. Und eine Politik, die sich über die lebendigen Identitätsgefühle der Bevölkerung meint hinwegsetzen zu können, bleibt erfolglos.
  2. Der allfällige Versuch, Planungsräume und Handlungszusammenhänge damit erzwingen zu wollen, daß mit einem numinosen Europa gewissermaßen gedroht wird, hat dem Europagedanken nachhaltig geschadet. Für 'viele Menschen ist „Europa" heute eher mit Verlustängsten und Korruptionsskandalen verbunden als mit den kulturellen und spirituellen Leistungen unseres gemeinsamen Erbes.

Ich denke, es wird Zeit, Europa wieder unter den Aspekten von Vielfalt und Identität zu kommunizieren. Die europäische Geschichte ist eine Geschichte vieler kleiner Räume und Teilräume. Wie lebenskräftig diese Geschichte ist, können wir überall beobachten. Die niederländische Provinz Friesland hat Friesisch zur Amtssprache erhoben, Flandern und Wallonien machen zusammen mit dem deutschsprachigen Landesteil Belgien aus, und die alte Tschechoslowakei löste sich jüngst sogar auf, um den Frieden im Land zu bewahren. Wir Deutsche sind ja Weltmeister im Reisen und freuen uns überall an den kulturellen Besonderheiten. Wir sollten uns dadurch inspirieren lassen, auch unsere eigenen kulturellen Traditionen als positive Werte neu zu entdecken, um sie in ein sich einigendes Europa einzubringen. Und hier kommt dem Ehrenamt ganz besondere Bedeutung zu.

Die Politik könnte und sollte dazu die Rahmenbedingungen schaffen. Doch ausgehen muß eine solche Bewegung von den Bürgerinnen und Bürgern selbst.

Bürgerschaftliches Engagement fördert aber selbstverständlich nicht nur das kulturelle Leben, sondern ist ebenso auf eigentlich allen anderen gesamtgesellschaftlich relevaten Handlungsfeldern wirksam. Vielfältige soziale, wirtschaftliche und politischen Herausforderungen, werden in großem Umfange von Vereinen, Initiativen, Gruppen und auch Mitgliedern von Kirchengemeinden ehrenamtlich wahrgenommen.

Wie weit ehrenamtlicher Einsatz überhaupt zum Funktionieren unseres Gemeinwesens beiträgt, wird seit einiger Zeit wieder vor allem in sozial-und kulturpolitisch interessierten Kreisen diskutiert. Und wie immer, wenn ein Thema plötztlich neu entdeckt wird, gibt es auch neue Namen. Man spricht heute gerne von bürgerschaftlichem Engagement oder von freiwilliger Arbeit. Gemeint aber ist das, was man gewöhnlich unte Ehrenamt versteht. Wir denken dabei in der Regel an Tätigkeiten, die freiwillig und unentgeltlich übernommen werden. Gleichwohl erwarten wir, das sie sachgerecht und zuverlässig erledigt werden. Und es kommt noch ein Aspekt hinzu, nämlich der des Einsatzes für das Gemeinwohl!

Allerdings hat der Begriff des Ehrenamtes auch eine gewisse Aufweichung erfahren, und seine Grenzen sind sowieso etwas schwimmend. In den vielfältigsten Formen begegnet uns heute bürgerschaftlichen Engagement. Wir kennen nicht nur Vereine aller Art, Kirchengemeinden, berufsständische Vertretungen, Gewerkschaften und Parteien, Diakonie, Caritas, Johanniter, Malteser, Hospitzdienste, THW, Freiwillige Feuerwehren und das Rote Kreuz, Bürgerinitiativen, Straßengemeinschaften, Selbsthilfegruppen und Stadtteilläden, sondern auch ehrenamtliche Richterinnen und Richter und Bürgerinnen und Bürger, die Pflegschaften übernehmen, Schiedsstellen besetzen und in der Bewährungshilfe tätig sind.

- Es mag an dieser Stelle unentschieden bleiben, was im Einzelfall Ehrenamt zu nennen ist. Und sicher habe ich bei dieser Aufzählung auch vieles und viele vergessen. Wichtig ist mir nur, Ihnen, meine Damen und Herren, Bereiche und Kornmunitäten in Erinnerung zu rufen, in denen täglich ehrenamtliche Arbeit geleistet wird.

Die aktuelle Diskussion über Ehrenamt, freiwillige Arbeit und Engagement in der Bürgergesellschaft fällt zeitlich zusammen mit der von der Mehrheit unseres Volkes geteilten Einsicht, daß unser überkommener Sozialstaat in der bisherigen Art nicht mehr finanzierbar ist. Nicht selten ist daher zu hören, das Ehrenamt werde nur deshalb plötzlich wieder hochgehalten, weil sich Staat und Kommunen auf dessen Kosten zu entlasten suchten. ( Und um es gleich zu sagen: Der Gedanke ist nicht völlig von der Hand zu weisen. - Gleichwohl ginge die Debatte völlig fehl, wenn sie sich auf die Frage dessen beschränkte, ob und wie bestimmte Dienste bezahlt oder ehrenamtlich erledigt werden sollten

An Wesen und Bedeutung von Ehrenamt, bürgerschaftlichem Engagement und freiwilliger Arbeit kommen wir weit besser heran, wenn wir uns einmal fragen, ob man die Leistungen, die ehrenamtlich erbracht werden, überhaupt kaufen könnte. Überlegen wir einmal, wie es aussähe, wenn wir bisher freiwillig und unentgeltlich durchgeführten Tätigkeiten von bezahlten Kräften erledigen ließen.Beginnen wir unsere gedanklichen Experimente mit den zahlreichen Vereinen, die zusammmen die Festwoche zu 75 Jahren Eversten als Oldenburger Stadtteil geplant und vorbereitet haben. Selbstverständlich hätte man, die notwendige Finanzkraft vorausgesetzt, die Festlichkeiten von einer Agentur organisieren lassen können. - Es fragt sich nur, wer überhaupt den Auftrag erteilt hätte und bereit gewesen wäre, damit die Verantwortung für Charakter und Durchführung der Veranstaltungen, zu übernehmen! Wer wäre in der Lage gewesen, Mitbürgerinnen und Mitbürger für die Sache zu begeistern und ihre Mitwirkung zu gewinnen! - Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer auf sogenannte Events spezialisierten Veranstaltungsfirma wohl kaum!

Ohne ein solides Fundament bürgerschaftlichen Engagments kann ein solches Stadtteil-Jubiläum nicht gelingen, und es wäre auch ziemlich überflüssig, würde.sich doch in Qualität und Bedeutung von jeder beliebigen Marketing-Maßnahme nicht unterscheiden. Erst dadurch, daß Bürgerinnen und Bürger die Sache zu ihrer eigenen gemacht haben, sie sich damit identifizieren, und aus freien Stücken ihre Zeit, Kraft, Phantasie und wohl auch manche private Mark eingebracht haben, ist dieses unverwechselbare^' Ereignis entstanden, das die Menschen zusammenführt und den wichtigen Zusammenhalt der Gemeinschaft stärkt. Die Jubiläumswoche macht für jeden deutlich, „wir in Eversten nehmen unsere Angelegenheiten selber in die Hand."

Identifikation und Selbstorganisation als Merkmale bürgerschaftlichen Engagements verweisen uns auf einen weiteren Aspekt, nämlich den der Subsidiarität. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Es wäre ja auch denkbar gewesen, der Rat der Stadt Oldenburg hätte beschlossen, dem Stadtteil Eversten gewissermaßen ein Jubiläum zu verordnen, und die städtische Verwaltung mit der Organisation beauftragt. - Ich bin mir nicht sicher, ob die Meinung der Everster Bevölkerung zu einem solchen Beschluß einhellig gewesen wäre. Ein Teil hätte sicher gedacht: Das können wir selber und allein besser! - Ein anderer Teil aber hätte eine solche kommunale Fürsorge wahrscheinlich sehr schön gefunden.

Ein Jubiläum als Dienstleistung der Stadtverwaltung hätte manches einfacher gemacht und vor allem die Verantwortung der Veranstalter und Mitwirkenden minimiert. Daß damit auch der Gestaltungsspielraum minimiert worden wäre, hätten einige sicher leichten Herzens in Kauf genommen. Verantwortung abzugeben, macht vielen von uns nämlich kein Problem. Im Gegenteil:

Wir erwarten von Staat und Kommune ganz selbstverständlich Daseinsvorsorge und -Fürsorge in allen Wechselfällen des Lebens. Das beliebte Wort von „Vater Staat" ist dafür symptomatisch. Der gute Vater soll für uns sorgen. Daß wir uns dabei zu unmündigen Kindern erklären, stört uns wenig, denn unser Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Staates scheint ungebrochen. Daß wir mit jedem Stück Verantwortung auch ein Stück Freiheit aufgeben, schreckt eigentlich nur wenige.

Die gesamtgesellschaftlich verbreitete Neigung, Verantwortung gerne zu delegieren, ist etwas, das zunehmend auch im Bereich der freiwilligen Arbeit fühlbar wird. Es ist keine Seltenheit mehr, daß Mitbürgerinnen und Mitbürger, die aus Altersgründen den Vorstandsposten in ihrem Verein lieber heute als morgen abgeben würden, sich gezwungen sehen, weiter im Amt zu bleiben, weil sich niemand zur Nachfolge bereit findet. Es wird tatsächlich immer schwerer, Persönlichkeiten zu finden, die sich freiwillig für Leitungsaufgaben zur Verfügung stellen.

Im Gegensatz dazu steht die große Bereitschaft weiter Bevölkerungskreise, bei Aktionen mitzuwirken, spontan zu helfen und Aufgaben bei Projekten zu übernehmen. Ob es darum geht, Kuchen für das Sommerfest des nachbarlichen Kindergartens zu backen oder Sachspenden für die Opfer eines Katastophengebietes zu sammeln, zu verladen und einen Lastwagenkonvoi in den letzten Winkel der Erde zu organisieren ... , dafür finden sich Helferinnen und Helfer vergleichsweise leicht. Spricht man aber Bürgerinnen und Bürger darauf an, ob sie sich vorstellen könnten, den Vorsitz im Sportverein, die Öffenlichkeitsarbeit für den Chor oder die Leitung eines Gesprächskreises in der Kirchengemeinde zu übernehmen, stellt sich sehr häufig heraus, daß Eignung und Neigung durchaus vorhanden sind. Doch die zutreffende Vorstellung, daß mit der Übernahme eines solchen Ehrenamtes auch längerfristige Verpflichtungen eingegangen werden, läßt dann leider viele von der Sache doch lieber Abstand nehmen. Das „Nein, ich möchte mich nicht binden", hört jeder immer wieder, der ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen sucht. Das, was wir früher, „sich in den Dienst nehmen lassen" genannt haben, läßt sich heute nicht mehr so ohne weiteres vermitteln.

Sie merken, meine Damen und Herren, ich bin hier nicht angetreten, um den Eindruck zu verbreiten, „alles ist gut" im Ehrenamt. Aber genauso wenig will ich der falschen Vorstellung Vorschub leisten, früher sei alles besser gewesen - und vor allem die Menschen. Ein Blick in die „Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste", 1838 bei Brockhaus in Leipzig herausgekommen, genügt, um die Mär von der „guten alten Zeit" zu korrigieren.

In einem mehrseitigen Artikel wird ausführlich auseinandergesetzt, was die damalige Zeit, also das frühe 19. Jahrhundert, in deutschen Landen unter Ehrenämtern verstand. Es wird mitgeteilt, ein Ehrenamt sei ein Öffentliches Amt, das entweder mit keinem oder nur einem geringen Gehalt, und, auch seiner Absicht nach, nicht mit der Hoffnung auf die Erlangung eines besoldeten Amtes verbunden sei. Auch sei das Ehrenamt nicht mit besonderen persönlichen Ehren verbunden, außer eben mit der Ehre, die die Würde des Amtes selbst mit sich bringe. Und anschließend werden viele scharfsinnige Gründe aufgezählt, weshalb besoldete Beamte den Ehrenbeamten notwendiger Weise weit überlegen sind. Deshalb sei es auch ganz natürlich, daß die Inhaber von Ehrenämtern meist danach trachteten, diese schnellstens wieder los zu werden. Schließlich könnten man mit einem Ehrenamt auch keine besondere Ehre erlangen... und hier ist die Begründung von Interesse:

Wer durch die Aufopferung eigenen Verdienstes und seiner Kräfte für seine Mitbürger Ehre erlangen wolle, der müsse diese Leistungen freiwillig erbringen, und das sei bei den Ehrenämtern schließlich nicht der Fall. Wörtlich heißt es: „Die Ehrenämter aber sind, nach unserer Verfassung, bürgerliche Lasten, denen man sich unterziehen muß, man mag wollen oder nicht, auf deren Ablehnung in den Fällen, wo die Gesetze diese nicht billigen, sogar öffentliche Strafen stehen". Die Rede ist hier übrigens von der allgemeinen Städteordnung für das Königreich Sachsen vom 2. Febr. 1832.

Und nur mit deutlichem Mißbehagen gesteht der Verfasser das Brock-haus-Artikels im folgenden zu, daß es durchaus auch Staatsbürger gebe, die tatsächlich freiwillig aus lauter Patriotismus Ehrenämter anstreben. Offenbar Exentriker, gewinnt man den Eindruck!

Überhaupt scheint die Frage des Ehrenamtes trotz der eben zitierten markigen Worte 1838 denn doch nicht mehr so ganz simpel gewesen zu sein. Es folgen nämlich umständliche Darlegungen, die kurzgefaßt auf folgenden Nenner zu bringen sind: In einer - in Anführungstüddeln, „anständigen" Monarchie werden die öffentlichen Ämter bezahlt, und je mehr sich die Staatsform zur Demokratie hin entwickelt, desto mehr greift das Ehrenamt um sich. Wörtlich: „Es hängt mit dem Wesen der Demokratie zusammen, daß Ehrenämter da die Regel bilden, daß der Bürger sie ambin, ohne den geringsten weitern Vonheil von ihnen zu erwarten, als politischen Einfluß".

Wir wollen hier nicht der Frage nachgehen, was der Verfasser von bürgerlichem Einfluß in der Politik hielt. - Für unseren heutigen Zusammenhang ist vielmehr zweierlei von Belang:

  1. Es gibt noch immer Ehrenämter, zu deren Übernahme Bürgerinnen und Bürger gesetzlich verpflichtet sind, z.B. bei der Durchführung von Wahlen oder in der Rechtspflege als Schöffe.
  2. Die freiwillige Wahrnehmung von Ehrenämtern galt im frühen 19. Jahrhundert als ein Merkmal der Demokratie. Dabei stand im Vordergrund, daß Bürger Einfluß auf die Politik nehmen.

Sich daran zu erinnern, daß Demokratie und freiwillig übernommenes Ehrenamt eng miteinander verbunden sind, scheint heute durchaus wieder notwendig zu werden. Wir haben uns daran gewöhnt, die Politik in Land, Bund und Europa Berufspolitikern zu überlassen, und selbst von den Frauen und Männern, die in Stadt- und Gemeinderäten oder Kreistagen wirklich ehrenamtliche Mitglieder sind, verlangen wir einen zeitlichen Einsatz, der weit über ein Ehrenamt hinaus geht. Nach dem Motto, wir haben sie gewählt, jetzt sollen sie uns auch 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen, erwarten wir von unseren Ratsmitgliedern Präsenz bei jedem Jubiläum, allen sonstigen Festen und Ereignissen sowie eine freundliche Stimme am Telefon rund um die Uhr. - Wenn wir nicht langfristig dazu übergehen wollen, uns gewissermaßen eine Politikerkaste zu halten, dann werden wir darüber nachzudenken haben, wie sich das ehrenamtliche Element in der Politik wieder stärken läßt.

Gleichwohl wissen wir alle, daß die politische Willensbildung in der modernen Informationsgesellschaft ein hochkomplexer Prozeß ist, der sich nicht darin erschöpft, daß periodisch Wahlen abgehalten werden und alles andere im Parlament stattfindet. Vielmehr nehmen die verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen, Interessenvertreter und nicht zuletzt die Medien an den Entscheidungsfindungen teil. Die zunehmende Undurchschaubarkeit der postindustriellen Informationsgesellschaft läßt darüber nicht wenige Mitbürgerinnen und Mitbürger resignieren. An die Stelle engagierter Wahrnehmung demokratischer Rechte und Pflichten ist bei vielen schon lange das getreten, was man neudeutsch „cokooning" nennt, also die Konzentration auf das Privatleben.

Zu begründender Entschuldigung wird meist der Topos herangezogen, man könne ja sowieso nichts ausrichten. Und gerne wird ergänzt, demnächst werde ohnehin alles in Europa entschieden.

Dabei wird geflissentlich übersehen, daß die tägliche Realität unseres Lebens nur zu einem Teil von der sogenannten großen Politik bestimmt wird und im wesentlichen von uns selbst gestaltet wird, oder eben auch nicht.

Wie sich beispielsweise eine Schule entwickelt, ist nur bedingt eine Frage der Schulgesetzgebung und läßt sich auch nur bedingt allein durch die Schulleitung und das Lehrerkollegium steuern. Wesentlichen Anteil haben auch Eltern und nicht zuletzt Schülerinnen und Schüler. Was den guten Geist einer Schule ausmacht, das ist die Identifikation aller Beteiligten mit ihrer „Penne" und die Bereitschaft aller, persönlich und freiwillig Verantwortung für die Schulgemeinschaft zu übernehmen. Eine demokratische Kultur des Ehrenamts sollte hier ihre Pflanzstelle und Blühte haben. Ich denke, wir täten gut daran, unseren Schülerinnen und Schülern wieder die freiwillige Übernahme kleiner Pflichten für die Klassen- und Schulgemeinschaft nahezulegen.

Allerdings müßte damit zweierlei einher gehen: einerseits mehr Bereitschaft der Erwachsenen, persönliche Verantwortung und fühlbare Verpflichtungen zu übernehmen, und andererseits ein Paradigmen-Wechsel in der Einschätzung des Ehrenamtes.

Wir wollen uns nichts vormachen: in der Skala gesamtgesellschaftlicher Wertschätzung steht das Ehrenamt deutlich unter wirtschaftlichem Erfolg, politischem, publizistischem oder gesellschaftlichem Einfluß sowie wissenschaftlichen oder künstlerischen Hochleistungen. Man kann sich durchaus hoher Reputation erfreuen, ohne auch nur eine Stunde seines Lebens freiwillig und unentgeltlich für das Gemeinwohl geopfert zu haben.

Selbstverständlich wird ehrenamtlicher Einsatz durch öffentliche Ehrungen anerkannt. Aber ich denke, Sonntagsreden und Ordensvergaben reichen nicht aus, um glaubhaft zu machen, daß Staat und Gesellschaft ehrenamtlichen Einsatz wirklich für essentiell halten. Jüngste Untersuchungen sagen uns, daß gut 80% der niedersächsischen Bevölkerung prinzipiell bereit wären, sich ehrenamtlich zu engagieren. Zugleich erwarten sie aber irgendeine Art von Steuervorteil. Etwa 35 % unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger stellen sich übrigens gegenwärtig tatsächlich freiwillig in den Dienst der Gemeinschaft.

Die Zahlung einer geringen Entschädigung oder die Übernahme von Unkosten gehört eigentlich von Anfang an zum Ehrenamt dazu. Doch daß den Ehrenamtlichen nicht auch noch finanzielle Lasten aus ihrem freiwilligen Engagement entstehen sollten, ist heute ziemlich in den Hintergrund getreten. Die leidige 630-Marks-Debatte soll hier nicht aufgegriffen werden. Gleichwohl stellt sich an dieser Stelle das Problem für viele Vereine. Und wie sieht es übrigens mit der steuerlichen Bewertung von Fahrt- und Übernachtungskosten bei ehrenamtlichen Funktionsträgern aus? Was ist davon zu halten, wenn ein kleines ehrenamtlich geleitetes Museum plötzlich Fremdenverkehrsabgaben zahlen soll?

In vielen Fällen geht es wahrscheinlich sogar weniger darum, 100 Mark Steuern oder Abgaben zu sparen, als darum, daß man sich zu Recht beleidigt fühlt, wenn die ohnehin symbolische Vergütung oder Aufwandsentschädigung auch noch hochnotpeinlich erklärt und versteuert werden muß.

Als Steuerbürger wird einem leicht der Eindruck vermittelt, Ehrenamt sei Hobby. Und wenn der Versicherungsfall eintritt, dann wird dieser Eindruck oft zur Gewißheit.

Um es noch einmal klarzustellen: Ich plädiere nicht dafür, das freiwillig übernommene Ehrenamt den Ehrenämtern gleichzugestellen, zu deren Übernahme Bürgerinnen und Bürger verpflichtet sind. Aber ich denke, die Gesellschaft würde ihre Hochschätzung bürgerschaftlichen Engagements glaubhafter als bisher zum Ausdruck bringen, wenn die Bedeutung des Ehrenamtes auch durch Recht und Verwaltung deutlich gewürdigt würden.

Ändern werden wir daran aber nur etwas, wenn wir uns alle auf breiter Front dafür einsetzen, das freiwillig übernommene Ehrenamt als integrale Institution einer demokratischen Gesellschaft im allgemeinen Bewußtsein zu verankern. Demokratie läßt sich nicht im Versandhandel bestellen. Auch nicht via Internet. - Wir müssen sie schon selber machen.

Und wenn wir in einem sich einenden Europa unsere kulturellen Traditionen und unsere historische Identität auch in Zukunft leben wollen, dann brauchen wir ein starkes Ehrenamt. Ich denke, unser heutiges Jubiläum gibt uns eine ermutigendes Beispiel:

So wie die Landgemeinde Eversten zu einem beliebten und prosperierenden Teil der Stadt Oldenburg wurde, weil Eversten dank des Einsatzes seiner Bürgerinnen und Bürger unverwechselbar Eversten geblieben ist, so sollten auch die Länder Europas unter Wahrung und Fortentwicklung ihrer Identität zusammenwachsen.

Quelle:

Hans-Günther Zemke (Hg), "50 Jahre Eversten", Oldenburg.
Hans-Günther Zemke.